Unabhängig dem einzelnen Menschen dienen

Vor 20 Jahren wurde in Wuppertal der ambulante Hospiz- und Palliativdienst Lebenszeiten gegründet. Christine Bode ist seit Januar 2010 als eine von zwei Koordinatorinnen im Verein tätig. Im Interview spricht sie über Lebenszeiten und den Wandel in der Hospizarbeit.

C Bode

 Frau Bode, was reizt Sie an der Hospiz- beziehungsweise Palliativarbeit?

Für mich gehört der Tod zum Leben. Die eigene Endlichkeit „im Hinterkopf“ zu behalten, hilft mir, den Augenblick zu genießen, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren und mich nicht im Alltag zu verlieren. Das steigert die Lebensqualität.

Allerdings naht für manche Menschen das Ende viel zu früh. Die Hospizarbeit ermöglicht mir, diese Menschen gut zu versorgen und zu begleiten. Als Hospizdienst sind wir in der glücklichen Lage, uns Zeit nehmen zu dürfen für den einzelnen Kranken und seine Angehörigen. Das empfinde ich als großes Geschenk.

Was macht den Verein Lebenszeiten mit seiner langen Tradition für Sie aus?

Lebenszeiten wurde vor 20 Jahren von engagierten Bürgerinnen und Bürgern gegründet. Als Verein in freier Trägerschaft hat Lebenszeiten sich seine Unabhängigkeit bis heute bewahrt. Wir Koordinatorinnen, Monika Schneider und ich, haben Freiheit für Kreativität. Wir können uns auf die Sache konzentrieren – und das in einem guten Miteinander mit den Begleiteten und ihren Angehörigen, den ehrenamtlichen Hospizhelferinnen und dem Vorstand.

Sie haben es gerade schon angesprochen: Als Koordinatorin sind Sie Bindeglied zwischen schwerkranken Menschen und deren Angehörigen, Hospizhelfern und dem Vorstand. Welche speziellen Herausforderungen bringt die Arbeit mit Ehrenamtlichen im Rahmen eines von „Laien“ geführten Vereins mit sich?

Wir tragen eine große Verantwortung. Sicher gehört viel Fingerspitzengefühl und mitunter auch Geduld dazu, den betroffenen Menschen und ihren Angehörigen auf der einen Seite sowie jedem einzelnen Hospizhelfer auf der anderen Seite individuell gerecht zu werden. Je vielseitiger und flexibler wir sind, desto besser können wir die Freiheit ausschöpfen, die uns die Arbeit in einem Verein bietet.

Eine wesentliche Voraussetzung, um in dieser Konstellation Menschen gut zu begleiten, ist für mich die berufliche, vor allem aber auch die eigenen Lebenserfahrung als Mutter von drei mittlerweile erwachsenen Söhnen. Als 25-jährige wäre ich dieser Aufgabe sicher nicht gerecht geworden, zumindest nicht gut.

Ob in einem von Laien geführten Verein oder in einer anderen Konstellation, gewisse Anforderungen bringt die Hospizarbeit in jedem Fall mit sich: Medizinische und pflegerischen Kenntnisse sind unverzichtbar, ebenso Empathie, kommunikative Fähigkeiten und Organisationstalent.

Wie hat sich die Hospizarbeit in den letzten Jahren entwickelt? Wie stellt sich die Situation in der Begleitung Sterbender und Angehöriger derzeit dar? Hat sich das Aufgabenfeld im Laufe der Jahre geändert?

Das Aufgabenfeld hat sich deutlich geändert. Anfangs wurde die Hospizbewegung von engagierten Laien getragen. Im Laufe der Zeit hat sich der Bereich immer stärker professionalisiert. Die Beratung wird immer wichtiger. Wir unterstützen Betroffene und Angehörige dabei, sich im Gesundheitssystem zu orientieren, damit sie die Unterstützung bekommen, die sie benötigen: Hausbesuche von Ärzten, eine gute Versorgung durch einen Pflegedienst. Auch die psychologische Beratung gewinnt an Bedeutung. Gerade Familienangehörige sehen in uns häufig „neutrale“ Ansprechpartner, mit denen sie offen reden können.

Hinzu kommt die Netzwerkarbeit. So sind auf kommunaler Ebene Palliativnetzwerke entstanden, in die wir integriert sind. Ziel ist es, schwerkranken Menschen bis zuletzt eine möglichst hohe Lebensqualität zu erhalten. Neben der Schmerztherapie spielt dabei auch die Zuwendung unserer Hospizhelferinnen eine große Rolle.

Weitere wichtige Kooperationspartner sind die Alten- und Pflegeheime. Auf diesem Gebiet hat Lebenszeiten Pionierarbeit geleistet. Wir sind hier in Wuppertal als erster Hospizdienst in die Heime gegangen, um die palliative Versorgung der Heimbewohner sicherzustellen. Unsere Hospizhelfer bringen das mit, was im Heimalltag nicht immer gegeben ist: Zeit für den einzelnen Menschen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Vereins, was für unsere Lebens- und Sterbekultur?

Was die Mitglieder, die Ehrenamtlichen und die Zahl der Begleitungen angeht, steht Lebenszeiten gut da. Wir sind ein wachsender Verein. Ich wünsche Lebenszeiten, dass weiter der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht. Die ehrenamtlichen Helfer übernehmen eine sehr anspruchsvolle Aufgabe und dabei müssen wir sie gut begleiten.

Dann wünsche ich mir, dass wir immer wieder neue Helferinnen finden und es uns gelingt, jedem einzelnen zu zeigen, wie wichtig er für Lebenszeiten ist. Und schließlich wünsche ich mir für die Lebens- und Sterbekultur in unserer Stadt, dass die Zusammenarbeit in den Palliativnetzwerken Früchte trägt und sich gut entwickelt.

Klarheit und Offenheit in der persönlichen Begegnung: Spiritual Care

Annedore Methfessel ist Pfarrerin für Seelsorge, Beratung und Supervision im Evangelischen Kirchenkreis Hattingen-Witten und bietet dort im Rahmen der pastoralpsychologischen Weiterbildung Kurse zu Spiritual Care an. Für Lebenszeiten  fragte ich die Wuppertalerin, welche Rolle Spiritualität in der Sterbebegleitung spielt.

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Ihr Angebot Spiritual Care ist in der evangelischen Kirche angesiedelt. Was unterscheidet „Spiritual Care“ von der klassischen pastoralen Seelsorge?

Unter „klassischer pastoraler Seelsorge“ verstehen Sie vermutlich, dass erstens die Seelsorge ein Arbeitsfeld der Pastor/innen ist, also von Hauptamtlichen geleistet wird, und dass zweitens die „pastoralen Begleiter/innen“ und die von ihnen Begleiteten der gleichen konfessionellen Bindung oder Kirche angehören. Demgegenüber ist Spiritual Care ein Begriff, der weiter über engere konfessionelle Bindungen hinaus denkt.

Wie gelingt es mit Spiritual Care, Menschen jenseits von Glaubensgrenzen zu erreichen? Inwiefern unterstützt Spiritual Care Menschen in ihrer letzten Lebensphase?

Durch die Hospizbewegung, durch Trauerarbeit und Palliative Care ist die Bedeutung von Spiritualität überhaupt in den Blick gekommen. Es ist also erkannt worden, dass Fragen der Spiritualität nicht einfach nur etwas „Persönliches und Privates“ sind, sondern dass die Beachtung, Bedeutung und Einbeziehung, bzw. das Eingehen auf Spiritualität ein wesentlicher Beitrag sein kann für die leibliche und seelische Stärkung und Aufrichtung schwerkranker und sterbender Patient/innen.

Nach meiner persönlichen Erfahrung ist und wird diese Offenheit Ausbildungskandidat/innen in der Pastoralpsychologischen Weiterbildung in Seelsorge/KSA mit dem Thema „Spiritual Care“ bewusst. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass in ökumenischer Weite die eigene konfessionelle Bindung, das Verständnis der eigenen kirchlichen Zugehörigkeit sowie die religiöse Herkunftstradition gestärkt werden. Diese Weiterbildung führt in aller Regel zur Bewusstwerdung eigener konfessioneller und religiöser Klarheit und dient zugleich der offenen Begegnung gegenüber spirituell anders verorteten Menschen.

Das Ziel ist also das gleiche wie in der von Ihnen vorausgesetzten „klassischen pastoralen Seelsorge“, nämlich Klarheit und Offenheit in der persönlichen Begegnung.

Welche Art von Halt oder Orientierung wünschen sich Menschen mit einer lebensbedrohlichen Krankheit?

Menschen in einer lebensbedrohlichen Krankheitssituation wünschen sich natürlich Halt und Unterstützung, um möglichst angstfrei mit dieser Situation umgehen zu können. Spirituelle Bedürfnisse, die die Menschen in der Regel bereits mitbringen, weil diese abhängig sind von den bisherigen Lebenserfahrungen, können so in der Begleitung aufgenommen und verstärkt werden.

Die spirituelle Seelsorgerin und der kranke Mensch bringen ihre eigene Lebensgeschichte mit und Spirtual Care lässt sich als der Versuch beschreiben, aus den Lebensgeschichten heraus gemeinsame Anknüpfungspunkte zu finden. Wie könnte das aussehen?

Wenn einem Menschen Religion etwas bedeutet, würde ich ihm beispielsweise anbieten, mit ihm gemeinsam zu beten. Vielleicht liegen einem Begleiter ein besonderes Segenswort, ein Bibelzitat oder Verse aus einem Gedicht am Herzen. Dann könnte er dies sagen und schauen, wie sein Gegenüber reagiert. Kleine Gesten wie ein Kreuzzeichen oder das Entzünden einer Kerze vor einem Objekt, das dem kranken Menschen wichtig ist, werden in der letzten Lebensphase mitunter als tröstlich empfunden. Entscheidend ist, dass wir bei der Begleitung behutsam und aufmerksam vorgehen. Niemandem sollte etwas aufgedrängt werden, was ihm möglicherweise sogar Unbehagen bereitet.

Und wenn das Gegenüber keinen Bezug zu Religion hat oder diese sogar ablehnt?

Soweit das noch möglich ist, könnte die Begleiterin versuchen, einen Bezug zur Jahreszeit herzustellen, einen blühenden Zweig im Frühling ans Krankenbett stellen oder in der Advents- und Weihnachtszeit ein wenig duftendes Tannengrün. Das hilft möglicherweise dabei, sich im Jahreslauf aufgehoben zu fühlen. Kann der Kranke nicht mehr essen und bekommt starke Schmerz- und Beruhigungsmittel, lohnt es sich, die noch offenen Sinne anzusprechen, vor allem den Geruchssinn. So kann es beispielsweise wohltuend sein, wenn die Hände oder die Stirn mit einem duftenden Öl eingerieben werden.

Kultursensible Pflege stellt den Menschen mit seiner Geschichte in den Mittelpunkt

Die Bewohnerinnen und Bewohner Wuppertals bringen ganz unterschiedliche kulturelle Hintergründe mit. Das sollte sich auch in der sozialen Infrastruktur widerspiegeln, beispielsweise in Alten- und Pflegeheimen. Für Lebenszeiten sprach ich mit Ralf Krause, Heimgeschäftsführer des Multikulturelles Seniorenzentrum „Haus am Sandberg“ in Duisburg. Ein Modell für Wuppertal?

Ralf Krause
Ralf Krause

Was bedeutet „multikulturell“ für Sie als Leiter des „Hauses am Sandberg“?

Ralf Krause: Neben alten und pflegebedürftigen Menschen aus der Nachbarschaft zählen zu unseren Bewohnerinnen und Bewohnern viele Menschen islamischen Glaubens, die mitunter ein wenig weiter weg von unserem Haus gelebt haben. Für das Pflegepersonal und die Heimleitung bedeutet „multikulturell“ vor allem eine kultursensible Betreuung und Begleitung unserer Bewohner. Im Grunde geht es darum, die einzelne Bewohnerin, den einzelnen Bewohner in seinen Wünschen und (auch religiösen) Bedürfnissen ernst zu nehmen. Der kulturelle Hintergrund ist dabei ein Faktor unter vielen.

Wie wirkt sich dieses Konzept im Heimalltag aus und weshalb lässt sich eine kultursensible nur schwer von einer allgemein empathischen Pflege abgrenzen?

Ralf Krause: Ein einfaches Beispiel: Unsere muslimischen Bewohner wünschen sich, von Menschen ihres Geschlechts gepflegt zu werden. Wir versuchen, dies zu ermöglichen, stoßen allerdings angesichts des Mangels an männlichen Pflegekräften an Grenzen. Viele alte Damen und Herren ohne Migrationshintergrund genieren sich genauso. Wenn eine Bewohnerin, ganz gleich welcher Herkunft, sich lieber von einer Frau waschen lässt, bemühen wir uns selbstverständlich, diesem Wunsch nachzukommen.

Weshalb bevorzugen alte und pflegebedürftige Einwanderer der ersten Generation und ihre Angehörige das „Haus am Sandberg“?

Ralf Krause: Sowohl die christliche als auch die islamische Gesellschaft in Deutschland säkularisiert sich immer mehr. Dennoch ist es vielen Familien türkischer Herkunft wichtig, dass sich die alte Generation halal ernähren kann, also nach den islamischen Speisevorschriften. Wir bieten jeden Tag ein Gericht ohne Schweinefleisch und dessen Nebenprodukte wie beispielsweise Gelatine an. Ein weiterer Aspekt ist sicher die Sprache. Eher altersbedingte Erkrankungen wie Demenz bringen es mit sich, dass sich die Bewohner zunehmend auf die Sprache ihrer Kindheit zurückziehen. In der Begleitung ist es wichtig, diesen Schritt nachvollziehen zu können. Unsere Mitarbeiter sprechen Türkisch und weitere Sprachen, je nach ihrem eigenen kulturellen Hintergrund. Wenn jemand sich in dieser Hinsicht weiterbilden will, fördern wir das.

Sie haben die Säkularisierung bereits angesprochen. Welche Rolle spielen religiöse Angebote in Ihrem Haus?

Ralf Krause: Seelsorger unterschiedlicher Konfession besuchen unsere Bewohner regelmäßig, darunter auch ein Hodscha. Da sie ihre Besuche dokumentieren, können wir nachvollziehen, dass die allermeisten unserer Bewohner diese Gespräche schätzen. Dabei muss es nicht unbedingt um Gebete und religiöse Inhalte gehen. Vielmehr bietet sich so eine weitere Möglichkeit zum persönlichen Gespräch. Wir haben einen islamischen Gebetsraum und laden unsere Bewohner alle zwei Wochen zu einem christlichen Wortgottesdienst in unseren großen Veranstaltungsraum ein. Diese Angebote sind beliebt, wohl auch, weil sie dazu beitragen, den Tag zu strukturieren.

Wie gehen Sie im „Haus am Sandberg“ mit der letzten Lebensphase, dem Sterben, um? Wie mit trauernden Angehörigen und Bewohnern?

Ralf Krause: So individuell wie die Männer und Frauen, die hier miteinander wohnen, sind auch ihre Wünsche und die ihrer Angehörigen am Lebensende. Wir gedenken einmal im Jahr unserer Verstorbenen. Manche Angehörige nutzen die Gelegenheit gerne, andere bleiben weg. Ebenso ist das Bedürfnis nach Nähe in den Tagen des Sterbens von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausgeprägt. Wir bemühen uns, jeder einzelnen Bewohnerin bis zuletzt gerecht zu werden. Dabei nehmen wir sehr bewusst und sichtbar Abschied. Der Transportsarg oder, leider immer häufiger, Leichensack wird durch dieselbe Tür getragen, durch die der Verstorbene früher einmal eingezogen ist.