Nach draußen schwimmen

Heute geht meine Tochter zum ersten Mal auf die neue Schule, auf die für große Kinder. Wenn ich singen könnte, hätte ich ein Lied für sie geschrieben. Kann ich aber nicht. Nun denn: ein Text für dich, mein großes Kind!

© Eifelpixel
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Ich sitze in der Sonne an einem See in der Eifel. L., die Tochter meines Mannes, kommt angerannt. „Astrid, unser Ball ist ganz weit weg getrieben.“ „Ja und?“ „T. [meine Tochter] versucht, ihn zu holen.“ Ich springe auf, eher unwillig als in Panik, renne über den Uferabschnitt für Hunde, balanciere über die spitzesten Steine an der ganzen Böschung dieses verdammten Sees, genieße eine Hundefelldusche („Hunde dürfen nicht ins Wasser“), sehe ziemlich weit weg einen kleinen Körper, unseren Ball vor sich herschiebend, und schwimme darauf zu.

Der Abstand zu T. wird kleiner, sie winkt in bester Laune: „Wenn die Leute in dem Boot mir nicht geholfen hätten, hätte ich den Ball nie bekommen.“ „Hältst du es für eine gute Idee, alleine raus zu schwimmen mit deiner Epilepsie?“ „Mama, es passiert nichts.“ Wir schwimmen an diesem schönen Sommertag eine Weile still nebeneinander her Richtung Ufer. „Und übrigens“, sagt meine Tochter, „die Gürteltasche nehme ich nicht mehr mit. Nie mehr!“ Die Tasche enthält eine Tube ihres Notfallmedikaments und T. hat sie glücklicherweise noch nie gebraucht.

Je mehr Zeit nach ihrem epileptischen Anfall vergangen ist, desto klarer wurde mir, dass die „Behindertentasche“, so T., eher mich beruhigt als ihr nützt. Wenn sie irgendwo einen Krampfanfall bekommt mit Schaum vorm Mund und aufgerissenen Augen, werden wohl die wenigsten Menschen auf die Idee kommen, in aller Seelenruhe nach einem Hinweis zu suchen, der in irgendeiner Tasche verborgen sein könnte.

T. hat etwas für sich entschieden. Der Gürtel engt sie ein und drängt sie in eine Sonderstellung, die sie nicht haben will. Vielleicht kann ich den Arzt bitten, ihr ein praktischeres Notfallmedikament zu verschreiben. Sie wird dann selbst entscheiden, welchen Menschen sie erzählt, was im Anfallsfall zu tun ist. Ich werde mich aufschrecken lassen, hinter ihr her schwimmen, sie im Auge behalten. Ich werde sehen, wie sie sich entfernt, und mich freuen, wenn sie zurückkommt. Eines wissen wir beide: T. kann schwimmen. Klar wird sie oft strampeln müssen, mich manchmal um Hilfe bitten, aber untergehen wird sie nicht. Mein liebes Kind, ich wünsche dir ein glückliches Größerwerden.

Der Anfall und warum ich darüber schreibe

Meine heute neunjährige Tochter war immer robust und gesund. Ein schwerer Epilepsieanfall Anfang der vergangenen Woche hat ihre und meine Perspektive verändert. Wie sich das auf unser Leben auswirken wird, wissen wir noch nicht.

Electro-encephalogramme

Eigentlich ist dies ein Business Blog. Da jedoch meine Arbeit immer auch das Leben meiner Tochter geprägt hat, gebe ich hier nun ihrer Krankheit Raum. Vielleicht wird sich die Kategorie „Gewitter im Kopf“ schnell erledigt haben, vielleicht aber auch nicht. Ich nehme mir die Freiheit, schreibend, lesend und nachdenkend der Krankheit meiner Tochter näher zu kommen. Ein Weblog im engeren Sinne des Wortes, ein Web-Tagebuch.

Montagabend, 21:30 Uhr: „Ach bitte, noch fünf Minuten.“ „Nein, morgen ist Schule. Du liest jetzt nicht mehr. Licht aus!“ Vielleicht eine Stunde später: T. kommt aus ihrem Zimmer. „Mir ist schlecht.“ Sie denkt, sie muss sich übergeben, benimmt sich zunehmend seltsam. Ich schaue in riesige Pupillen, rufe T.s Vater und meinen Mann, die beide zufällig da sind. Wir legen T. aufs Sofa, die Beine hoch. Vielleicht hat sie es am Kreislauf. Statt in ihr Bett zu gehen, steuert sie die Küche an, setzt sich auf ihren „Stammplatz“ und sagt: „Ja, ist doch gut. Hier schlafe ich.“ Später erzählt sie mir: „Ich wollte in Mamas Bett [das der Küche gegenüberliegt], aber das ging ja nicht.“

Gegen Mitternacht: Wohl noch bevor ich T.s Zimmer betrete, höre ich ein verstörendes Geräusch. Was ich sehe, entsetzt mich: Sie liegt mit aufgerissenen Augen im Bett, die Pupillen füllen fast den gesamten Augapfel aus, wirft sich hin und her. Roter Schaum vorm Mund (sie hat sich auf die Zunge gebissen), nicht ansprechbar. Sie hat große Atemnot. Ich richte den vollkommen schlaffen Körper auf, drücke ihn an mich. Derweil ruft mein Mann den Notarzt. Der Atem geht etwas ruhiger.

Die Notärztin, eine junge Frau, kommt schnell. Vier Leute stehen im Kinderzimmer. Ich weiß nicht, was sie mit meinem Mädchen machen. Wir fahren in die Kinderklinik nach Barmen. Auch dort gelingt es nicht, T. aus ihrem Anfall herauszuholen. Sie wird auf der Kinderintensivstation behandelt. Es dauert lange, bis ich zu ihr gehen kann. Endlich schläft sie einen krampflosen Schlaf. Wir bleiben auf der Intensivstation. Sie schläft und schläft.

Am Morgen wird T. auf eine „periphere“ Station verlegt. Die Bilder der Frühchen aus der Intensivstation habe ich noch im Kopf. Ein MRT bringt glücklicherweise keinen Befund. „Kein Nachweis einer zerebralen Raumforderung“, heißt es im Entlassungsbericht. Mit einem EEG lässt sich die Hirnregion, in der der Anfall ausgelöst wurde, identifizieren. Da es wenige Wochen zuvor ein erstes, leichteres Ereignis gab, lautet die Diagnose „Epilepsie“. Wir beginnen eine Behandlung mit dem gängigen Medikament Keppra. Ein Notfallmedikament hat T. ab jetzt immer dabei. Sie darf nicht mehr unbeaufsichtigt schwimmen und baden – die einzig spürbare Veränderung ihres Alltags.

Allein in Wuppertal, entnehme ich einem Plakat in der Klinik, gibt es knapp 4.000 Epileptiker. Geht man von etwa einem Prozent der Bevölkerung aus, ist diese Zahl zwar nicht mehr aktuell, hilft aber, ein Gefühl für die Verbreitung zu entwickeln. „Epilepsien sind die häufigsten neurologischen Erkrankungen. Mehr als die Hälfte der Epilepsien tritt im Kindes- und Jugendalter, also in den ersten beiden Lebensjahrzehnten auf. Im Babyalter erkranken etwa 80-100 von 100.000 Säuglingen neu an einer Epilepsie, zwischen 10 und 20 Jahren sind es noch 50 von 100.000 Kindern“, schreibt der e.b.e (epilepsie bundes-elternverband) mit Sitz in Wuppertal.

Vielen der Eltern sitzt vermutlich der Schock, die Angst und die Hilflosigkeit des ersten Anfalls in den Knochen. Ist die Krankheit erst einmal benannt, kann man sich darauf einstellen und lernen, damit umzugehen. Allen Eltern und Angehörigen von Epileptikern wünsche ich, auch die andere Seite in Erinnerung zu behalten: dieser wunderschöne Moment, wenn der geliebte Mensch wieder ganz der Alte ist. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist.“